“Über 14 Jahre gibt es das jet­zt!”, stellt der Vor­sitzende des Stadtju­gen­dringes, Rüdi­ger Koch, mit einigem Stolz fest. Gemein­sam mit seinen Vor­stand­skol­le­gen hat­te er in der ver­gan­genen Woche das Pro­jekt “interkul­turelle sportlich ori­en­tierte Jugen­dar­beit mit Aussiedler­ju­gendlichen” als Bewe­gungsini­tia­tive für den bun­desweit­en Wet­tbe­werb “Mis­sion Olympic” angemeldet.

Die Ini­tia­tive richtet sich vor­rangig an Jugendliche mit Migra­tionsh­in­ter­grund, deren Fam­i­lien zum großen Teil aus den ehe­ma­li­gen Sow­je­tre­pub­liken stam­men. Mehrmals wöchentlich tre­f­fen sich mitunter mehr als 100 Jugendliche und junge Erwach­sene unter der Leitung von Dipl. Sportlehrer, Richard Gemar zu einem offe­nen Sportange­bot.

Neben Kraft­sportübun­gen ste­hen ins­beson­dere Ball­sportarten bei den 14 — 27-jähri­gen Teil­nehmern hoch im Kurs. Auch Kanu­touren oder Turnierteil­nah­men find­en sich auf dem Ter­min­plan. Pro­jek­tleit­er Richard Gemar ist beson­ders durch seinen eige­nen Hin­ter­grund als Spä­taussiedler ein Vor­bild für die jun­gen Sportler, was die Inte­gra­tion unter Beibehal­tung der eige­nen Iden­tität in Deutsch­land, beziehungsweise in Ibben­büren anbe­langt. Er ste­ht den Jugendlichen und jun­gen Erwach­se­nen über die sportliche Betä­ti­gung hin­aus als ver­trauter Ansprech­part­ner zur Ver­fü­gung und ken­nt auch viele von deren Fam­i­lien.

Das Pro­jekt ist ursprünglich im Jahr 1998 vom Jugen­damt der Stadt Ibben­büren ini­ti­iert wor­den. Im März 2000 über­nahm der ehre­namtlich agierende Stadtju­gen­dring Ibben­büren e.V. die Pro­jek­t­träger­schaft, um die kon­tinuier­liche Fort­führung zu gewährleis­ten. Finanziert wird die sportliche Betreu­ung der jun­gen Leute auss­chließlich durch Spenden, die das Pro­jekt derzeit bis zum März 2013 absich­ern.

Im Rah­men der Kam­pagne “move ibb!” – bewegt Ibben­büren!” wer­den ver­schiede­nen Bewe­gungsini­tia­tiv­en mit einem sym­bol­is­chen Fackel­lauf ver­bun­den. Mit der Kam­pagne sollen alle Ibben­büren­er dazu aufgerufen wer­den, darüber nachzu­denken, ob sie aktuell oder in der näheren Ver­gan­gen­heit dazu beige­tra­gen haben, dass sie sich und/ oder andere Men­schen sportlich betätigt haben. Gesucht sind sowohl große Pro­jek­te, als auch kleine Ini­tia­tiv­en.

Ziel der Kam­pagne “move ibb!” ist, mit möglichst vie­len und zahlre­ichen hochw­er­ti­gen Bewe­gung­spro­jek­ten die Jury des bun­desweit­en Wet­tbe­werbs “Mis­sion Olympic” zu überzeu­gen, dass Ibben­büren als eine von zwei deutschen Städten in das Finale im Wet­tbe­werb um Deutsch­lands aktivste Stadt einziehen kann. Ob Betrieb­ss­port­gruppe, Kegel­club, Gym­nas­tik in der Senioren­gruppe oder auch Elter­nak­tio­nen: jede Ini­tia­tive zählt. Auch noch in Pla­nung befind­liche Vorhaben sind gefragt. Anmel­dung der Ini­tia­tiv­en und mehr zur Kam­pagne unter www.move-ibb.de.

Es ist Dien­stagabend, etwas zu kalt für Juni, aber immer­hin ist die Sonne raus­gekom­men. Ich tre­ffe Richard Gemar, den Leit­er des Pro­jek­ts zur inte­gra­tiv­en Jugen­dar­beit in Ibben­büren, nach dem Jugend­hil­feauss­chuss vor der Sporthalle, erzäh­le etwas von der Sitzung, in der es auch um ihn ging, und dass man sich freue, dass nach seinen Sportver­anstal­tun­gen keine Bier­flaschen weg­geräumt wer­den müssten.

Ach, jee,

winkt Richard kopf­schüt­tel­nd ab,

das ist doch ganz falsch. Bei mir trinkt nie­mand. Ganz am Anfang, beim Mit­ter­nachtss­port, da kamen einige an und haben getrunk­en und ger­aucht. Da habe ich sie ins Gebet genom­men und gesagt, sie kön­nen gerne wieder kom­men — wenn sie nicht trinken und rauchen. Und das war’s. Aber das war in den 90ern.

Aber sowas hört man manch­mal. Ein­mal bin ich gefragt wor­den: ‘Richard, warum spuck­en die Rus­s­land-Deutschen vor die Sporthalle?’ Ich habe gefragt: ‘Wie kannst du an der Spucke erken­nen, dass sie von Rus­s­land-Deutschen ist?’ Nein, das machen Jugendliche, wenn sie anfan­gen zu rauchen. Dann spuck­en sie den ersten Monat lang. Das machen alle: Deutsche, Russen und Türken.

Aber bei mir raucht kein­er. Ich bin da etwas streng, sich­er, so war man bei uns. Der Lehrer ist der Chef, gegen den wird nichts gesagt. Damals wurde nicht genörgelt oder kri­tisiert. Ich weiß, hier ist das anders. Und ich habe mich auch geän­dert, ich bin ja schon 20 Jahre hier. Aber das hat früher gut funk­tion­iert.

Ich wende ein, dass die Dinge hier für Her­anwach­sende aber eben auch anders laufen — eben nicht so ein­fach wie früher. Meine Fre­undin kommt aus der Ukraine und ihre Ver­wandten von dort haben sich sehr zornig gezeigt, als der Staat ihr nach ihrem Studi­um nicht direkt eine Arbeitsstelle ange­boten hat. Richard lacht.

Ja, weißt du, wir haben früher dazu einen Witz gehabt. Da ruft jemand bei Stal­in an: “Genosse Stal­in, mir wird kein Job ange­boten.” — “Genosse Arbeit­er, wer leit­et ihre Kol­chose?”

Richard lacht. Ich ver­ste­he den Witz nicht.

Na, das ist so,

sagt Richard,

damals gab es ein Gesetz, dass jedem in der Sow­je­tu­nion ein Beruf zur Ver­fü­gung gestellt wird. Per Gesetz. Jed­er kriegt einen Job. Der Arbeit­er kriegt nun den Beruf des Kol­chose­führers und der geht nach Sibirien.

Inzwsichen trudeln die Teil­nehmer sein­er Gruppe ein. Ich besuche die Gruppe zum zweit­en Mal. Wenn ich von dieser Sport­gruppe bish­er etwas gel­ernt habe, dann das, mir meine eige­nen Vorurteile einzugeste­hen. Nicht alle Jugendlichen mit sow­jetis­chem Hin­ter­grund sind Deutsch-Russen. Einige sind durch aus in deutschen Sportvere­inen angemeldet. Das war unge­fähr so passend, wie meine Mei­n­ung, in der Sow­je­tu­nion sei grund­sät­zlich schlechteres Wet­ter als bei uns. Pustekuchen. In vie­len Teilen der ehe­ma­li­gen Sow­je­tu­nion ist das Kli­ma deut­lich angenehmer als in Deutsch­land. Richard ist meinem Vorhaben gegenüber, etwas über die Gruppe zu doku­men­tieren um Vorurteile abzubauen, skep­tisch. Es sei doch so, dass die einen Men­schen dies dächt­en und die anderen das. Er habe da nichts gegen.

Wenn “Russen” und “Deutsche” aufeinan­der tre­f­fen, sind der­art unter­schiedliche Ansicht­en aber nicht ungewöhn­lich. Wenn er eine Ungerechtigkeit ent­deckt, sagt der Deutsche: “Was eine Ungerechtigkeit! Wie ärg­er­lich! Da müssen wir was gegen tun!” und der Russe sagt: “Was eine Ungerechtigkeit! Wie ärg­er­lich! Da kann man wohl nichts machen. Haupt­sache, es erregt keine Aufmerk­samkeit!”

Ich komme mit eini­gen ins Gespräch. Das ist ein Jugendlich­er, der sich schon poli­tisch engagiert hat. Er hat sich damals für inte­gra­tive Sportar­beit aus­ge­sprochen. Seit den Erfahrun­gen, die er damals gemacht hat, möchte er sich nicht mehr öffentlich äußern. En Inter­view mit mir ist daher unmöglich, man kön­nte ihn an der Stimme erken­nen, sagt er. Ich lasse mir die Sach­lage erk­lären und kann mir vorstellen, welche Per­so­n­en er meint. Ob er nur keine Lust hat oder doch berechtigt Kon­se­quen­zen befürchtet? Ich würde let­zteres nicht auss­chließen wollen. Er hält die inte­gra­tive Sportar­beit für sehr sin­nvoll, es sollte mehr davon geben. Anson­sten wür­den die Leute Unsinn anstellen.

Ich erzäh­le, dass ich fest­gestellt habe, dass Unsere­inem gar nicht bewusst sei, wie oft man als Immi­grant mit komis­chem Ver­hal­ten der Nichtim­mi­granten zu tun hat. Davon kön­nen viele eine Geschichte erzählen. Ich habe gedacht, es seien Geschicht­en, die schon über­standen wären, die schon etwas her wären. Aber nein, mit sowas haben die Jugendlichen tagtäglich zu tun.

Ein Mäd­chen erzählt mir, dass sie aus der Klassen­stunde gewor­fen wor­den wäre, weil sie ein rus­sis­ches Wort aus­ge­sprochen hätte. Das finde ich irri­tierend, ger­ade weil ich neulich einen Ver­hal­tens­forsch­er gehört habe, der meinte, jed­er würde in der Sprache zählen, die er als allererstes gel­ernt hätte. Man legt dem­nach nicht alles ein­fach so ab, was man mal gel­ernt hat.

Ein anderes Mäd­chen erzählt, dass sie erst neulich gemerkt hat, dass ein Arbeit­skol­lege sich ihr gegenüber anders ver­hält, weil sie anders wäre, weil sie deutsch mit markant rol­len­dem R spräche. Ich frage sie, was sie vom Begriff Inte­gra­tion halte. Sie habe mal einen Vor­trag dazu in der Schule gehal­ten, sagt sie. Aber sie habe Schwierigkeit­en mit diesem Wort. Sie ver­hält sich nicht anders als die Immer-schon-Deutschen, hat einen nor­malen Beruf, spricht fließend deutsch, aber ob das schon Inte­gra­tion ist?

Ihre Fre­undin wun­dert sich darüber, dass ich über die Lage der immi­gri­erten, jun­gen Deutschen schreiben will:

Die Leute haben halt Vorurteile,

sagt sie,

das ist halt so. Das wird man auch nicht ändern kön­nen.

- Naja,

sage ich,

was immer Inte­gra­tion genau bedeuten soll, ich glaube nicht, das es heißt, dass man sich mit Diskri­m­inierun­gen abfind­en soll.